Interview mit Nils Dehne als Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser sowie Gründer und Geschäftsführer der MACH160 Praxis- und Kooperationsmanagement GmbH für die Trendstudie „Arztberuf im Wandel“ (Erscheinungstermin September 2023). Das Interview führte Daniel Dettling, Geschäftsführer des Vereins „Gesundheitsstadt Berlin“ als Herausgeber der Studie.
Link zur Studie: https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/aktivitaeten/veroeffentlichungen
Können Sie ein bis zwei Sätze zu ihrer Person sagen, Herr Dehne?
Ich bin Nils Dehne, Geschäftsführer der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser, vorher fünf Jahre direkt im Krankenhaus tätig und seit fünf Jahren bemüht, einen Verbund von 27 großen kommunalen Krankenhäusern aus dem ganzen Bundesgebiet hier in Berlin politisch, aber eben auch so ein bisschen als Mehrwertserviceanbieter seiner Mitglieder zu etablieren.
Vielen Dank für das kurze Intro. Vor welchen zentralen Herausforderungen steht der Arztberuf in den nächsten 10-15 Jahren?
Die großen Herausforderungen sind Feminisierung, demographischer Wandel und Digitalisierung. Es braucht neue Formen der Zusammenarbeit, die weit über das hinausgehen, was wir heutzutage in unserer klassischen Gesundheitsversorgung kennen. Wir werden neue Formen der Interaktion sehen, künftig wird nicht jeder Patient immer gleich einen Arzt finden. Der Erstkontakt wird in Zukunft auch durch eine qualifizierte Pflegekraft, einem nicht-akademischen Mitarbeitenden oder einem digitalen Helfer geschehen. Prozessuale Flexibilität wird zur übergeordneten Herausforderung.
Das heißt, wir brauchen in Zukunft weniger Ärztinnen und Ärzte oder wir werden weniger haben? Oder beides?
Wir haben weniger Ärzt:innen. Unsere Arbeitsweisen werden sich anpassen müssen. Ich betreibe nebenbei ein Ärztehaus, hier kommen Telefon- oder Videosprechstunde und digitale Hilfsmittel gar nicht zum Einsatz, weil die Arztpraxistür aufgemacht wird und am Ende geschlossen wird. Niemand muss sich Gedanken machen, ob es am Ende noch genügend Patientinnen und Patienten gibt. Wir sind gerade an dem Punkt, an dem jeder merkt, dass es nicht damit endet, wenn man die Tür wieder zu macht, weil doch irgendwer hinten runterfällt, der eigentlich eine Versorgung bräuchte.
Heute findet das Triagieren am Telefon der MFA in der Praxis statt. Wer einen guten Zugang zum Gesundheitswesen hat, bekommt schneller einen Termin.
Die 5.000 zusätzlichen Medizinstudienplätzen, die Lauterbach fordert, um die Baby-Boomer in Zukunft zu versorgen, wird es nicht geben?
Fachkräftemangel gibt es überall, nicht nur in der Medizin. Alle Bereiche unseres Wirtschaftslebens brauchen dringend Personal, unsere Verwaltung und Schulen, etc. Ich würde mich nicht darauf verlassen wollen, dass neuer Nachwuchs kommt.
Könnte ein neues Zusammenspiel der Gesundheitsberufe eine Lösung sein?
Die Lösung besteht aus einem Zusammenspiel zwischen einer neuen Arbeitsverteilung, einer neuen Frage der Priorisierung, eines schnelleren und direkteren Informationsaustausches und einer Kombination verschiedener Kompetenzen, ohne dass ich einen neuen Termin an einem neuen Ort machen muss. Das ist auch eine Frage der Digitalisierung und der Eigenverantwortung, im Sinne von Prävention und Selbstkontrolle.
Was kann die Politik tun, um das zu gestalten und sinnvoll vorzubereiten? Oder sollte sie die Finger davonlassen?
Im Gesundheitswesen haben wir unsere Probleme mit dem hohen Gut der Selbstverwaltung. Die Politik ist in einer schwierigen Situation, das ausreichend schnell zu gestalten. Das beste Beispiel ist die Diskussion um die Digitalisierung in der ambulanten und stationären Versorgung. Wir reden immer darüber, ob es in der Videosprechstunde Quoten geben müsste und ob die für jeden zugänglich sein sollte usw. Aber solange wir in unserem Vergütungssystem die Option der Videosprechstunde nicht fest verankert haben, werden wir das Thema nicht beschleunigen können. So ähnlich ist es in der Physiotherapie. Solange wir nicht auch eine hybride Physiotherapie ermöglichen, werden wir nicht die Dynamik erreichen können, die wir brauchen. Die Selbstverwaltung hat die Hoheit über die Vergütungssysteme. Warum drehen wir die Denkweise nicht um: Alles, was nicht ausdrücklich einem Arzt vorbehalten ist oder durch Präsenz erbracht werden muss, sollte auch digital oder von einem anderen Gesundheitsberuf erbracht werden können. Was ist wirklich zwingend notwendig, dass es ein Arzt machen muss?
Hier könnte die Politik einen Pflock einschlagen: Alle Leistungsbestandteile der Entgeltkataloge wie EBM, sowie DRG- und OPS-Katalog können, wenn sie nicht ausdrücklich in Präsenz stattfinden müssen, auch digital oder hybrid erbracht werden. Das würde die Digitalisierung stark beschleunigen.
Die Ärzt:innen klagen vielerorts über Überlastung. Wie könnte der Arztberuf attraktiver werden oder entlastet werden?
Die klassischen Organisationsformen unserer Leistungserbringung sind nicht mehr mit den Lebensmodellen sowie den Arbeitsvorstellungen kommender Generationen kompatibel. Wir gehen davon aus, dass derjenige, der am häufigsten eine Sache gemacht hat, es auch am besten kann. Abläufe und Prozesse sind in einem Krankenhaus über Jahrzehnte etabliert. Einen Krankenhausträger, der sich trauen würde, zu sagen „Wir wecken die Patienten in Zukunft erst um zehn, wir machen das Langschläferkrankenhaus“, ist schwer vorstellbar. Es gibt sicherlich Arbeitnehmende und auch Patient:innen, die es attraktiv fänden, erst um zehn anzufangen und dafür bis 18 Uhr zu arbeiten. Hier fehlt es unserem System an Mut und Kreativität.
Also mehr Flexibilität?
Wir brauchen Instrumente, die den Arbeitsvorstellungen der kommenden Generation entsprechen. Nicht jeder hat den Anspruch, alles abdecken zu können. Insofern müssen wir uns über die Arbeitsteilung in diesem Bereich neue Gedanken machen.
Uns fehlt oft die Fantasie neue Wege zu wagen oder uns zu trauen. Themen wie interdisziplinäre Führungsstrukturen sind überwiegend modellhaft und selten übliche Praxis. Warum trennen wir nicht konsequent die fachlichen und personellen Führungsaufgaben in einer Klinik Oder einem MVZ?
Fehlt es da an Vorbildern und guten Beispielen?
Wir haben einen Mangel an Kreativität, Mut und an guten Beispielen. Wir können von den zukünftigen Generationen nicht mehr erwarten, dass sie so lange dabeibleiben, bis sie in der Position sind, etwas zu ändern. Dafür haben diese Menschen zu viele Alternativen für die Entfaltung nach den eigenen Vorstellungen.
Sie hatten das Thema Digitalisierung angesprochen. Bürokratie und Dokumentation sind ein ewiges Thema. Wo kann die Digitalisierung da entlasten?
Wir müssen uns komplett davon frei machen, dass wir unsere heutigen Prozesse oder Arbeitsweisen einfach nur mit einem digitalen Helfer fabrizieren. Bei der medizinischen Dokumentation ist es fast egal, ob Sie auf einer Schreibmaschine schreiben oder einem Computer. Da kommt nichts an digitalem Wert heraus. Es ist einfach in einem anderen Format abgespeichert, im schlimmsten Fall als PDF-Dokument. Wir haben diverse Schnittstellen in Krankenhäusern. Das beste Beispiel ist das PDMS-System der Intensivstationen, was in den meisten Fällen am Ende PDF-Dokumente produziert, die dann ins KISS-System kommen, weil es kaum ein Krankenhaus geschafft hat, eine echte Datenverbindung mit strukturierten Daten von einem PDMS-System in ein KISS-System zu realisieren.
Wir müssen unsere Arbeitsweise ändern und den Wert von strukturierten Informationen erkennen. Das ist der entscheidende Unterschied. Wenn wir es schaffen, in strukturierten Informationen zu arbeiten und zu denken, dann wird die Digitalisierung ganz schnell zum Erfolg werden. Das lernt man aber nicht nebenbei, sondern das ist ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel.
Wo ist die Versorgung besser, wenn man das so pauschal sagen kann: Auf dem Land oder in der Großstadt? Wie wird sich das Verhältnis in den nächsten 10-15 Jahren verändern?
Im Bereich der Digitalisierung und auch der Arbeitsteilung können wir die Herausforderungen nur lösen, wenn wir größere Einheiten schaffen. Eine Serverinfrastruktur oder eine Datenbankstruktur oder eine digitale Vernetzungsinfrastruktur ist nur dann tragfähig, wenn die Einheit größer ist. Das werde ich nicht an jeder berühmten Milchkanne realisieren können. Eine Aggregation dieser Aufgaben wird entscheidend sein, wobei die heutigen technischen Möglichkeiten auf dieser Basis auch eine große örtliche Flexibilität ermöglichen, Eine zentrale Infrastruktur kann trotzdem eine dezentrale Leistungserbringung sicherstellen. Das setzt nur eben neue Formen der Zusammenarbeit voraus.
Dann ist die Frage, ob es in 10-15 Jahren noch Landärzte und Landärztinnen geben wird, völlig irrelevant.
Die spannende Frage ist, wie sieht in 10-15 Jahren unsere ländliche Bevölkerung überhaupt aus. In vielen ländlichen Regionen haben wir eine Überalterung der Bevölkerung. Und wie will man einer jungen Familie vermitteln, dass sie in diese Region ziehen sollen, wenn sie weiß, dass in 15 Jahren, die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr da ist? Was ist das für eine Investitions- oder Lebensperspektive? Die Frage ist nicht, ob die Ärzte noch aufs Land kommen, sondern ob Ärzte eine attraktive Umgebung vorfinden, in der sie mit ihrer Familie leben wollen. Das lässt sich schwer politisch oder gesellschaftlich verordnen, sondern das muss durch eine Anpassung der Strukturen auf beiden Seiten erfolgen.
Natürlich wird es auch in Zukunft ländliche Versorgung geben, aber sie wird bestimmt anders aussehen als heute. Jemand, der heute aufs Land zieht, entscheidet sich bewusst für einen Ort, wo nicht jeden Tag mehrfach der Rettungswagen mit Sirene an der Tür vorbeifährt.
Das heißt, eine Landarztquote braucht es nicht, damit junge Ärzte nach dem Studium auch im ländlichen Raum praktizieren?
Mit Quoten wie der Landarztquote verschieben wir nur die Probleme. Für mich ist das so ähnlich wie das Verbot der Leiharbeit. Wir können doch nicht den Überbringer der schlechten Nachricht dafür bestrafen, dass wir ein strukturelles Problem haben. Derjenige, der dahintersteckt, macht nur offenbar, dass wir ein Problem haben. Mit einer Quote kann man sich eventuell kurzfristig retten, aber ich denke nicht, dass sie die Begeisterung der jungen Leute fördert.
Welche drei Stellschrauben würden Sie als Gesundheitsminister drehen?
Erstens brauchen wir mehr Gestaltungsspielraum in der Form der Leistungserbringung. Qualität werden wir nicht durch immer detailliertere Regelungen steigern können. Das kann nur zulasten der Innovationskraft gehen. Zweitens müssen sich die Strukturen bedarfsadäquat weiterentwickeln. Wir haben eine Verengung der Leistungserbringungsformen und Gestaltungsmöglichkeiten geschaffen, die Innovation, Kreativität und Gestaltungsmut erschlägt. Drittens: Wir müssen in der Gesundheitspolitik wieder in anreizgerechtem System denken und uns fragen, welche Gesundheitsversorgung wir uns leisten können und wollen. Voraussetzung ist ein anreizgerechter Rahmen, der es erschwert, dass sich Akteure über Gebühr zulasten des Systems bereichern und der dafür sorgt, dass dort, wo der Bedarf existiert, auch die Vergütung hinfließt.
Welche Rolle spielt die Zuwanderung in den nächsten Jahren für die Ärzte?
In einer alternden Bevölkerung und einer demographisch fragilen Struktur sind wir auf Zuwanderung angewiesen, nicht nur im Gesundheitswesen. Wir können Reformen und Veränderungen nicht so schnell wirksam umsetzen, wie wir Personal dafür bräuchten. Insofern ist die Fachkräftezuwanderung der zentrale Hebel, um uns Zeit für notwendige Reformen zu verschaffen.
Die Fachkräfteeinwanderung ist aber nur ein Pflaster, das unsere akuten Probleme überdeckt und keine nachhaltige Lösung.
Zum Schluss die Frage: Was macht Ihnen am meisten Hoffnung, wenn Sie an den Arztberuf der Zukunft denken?
Am meisten Hoffnung machen mir zum einen die heutigen technischen Möglichkeiten. Es gibt kaum ein Problem, wo Technik nicht zur Lösung beitragen kann. Zum anderen die Inspiration oder Motivation der jüngeren Generation, die weiblicher ist und damit einen ganz anderen Schlag in den Berufsstand und die Versorgung reinbringt, den es noch nie vorher gab.
Und Ihre größte Sorge?
Meine größte Sorge ist ein System, an das wir unsere gesamte Eigenverantwortung abtreten und der Glaube, allein der Arzt könne uns helfen.