Die Versicherten zahlen doppelt

Nur nachhaltige Strukturreformen verhindern eine Leistungskürzung
Foto: Bundesgesundheitsministerium
Erstellt von:Nils Dehne
Erstellt am:03.07.2022
Aktualisiert am:03.07.2022, 19:24

In der vergangenen Woche hat der Gesundheitsminister, Karl Lauterbach, seine Ideen zur Auffüllung der absehbaren Defizite in den Haushalten der gesetzlichen Krankenkassen vorgestellt. Demnach müssen die Beitragszahler mit einer Anhebung der Zusatzbeiträge um durchschnittlich 0,3 Prozent rechnen. Damit tragen die Versicherten den mit Abstand größten Anteil zum Ausgleich der fehlenden Gelder im Gesundheitssystem bei. Das wird notwendig, weil sich die aktuelle Koalition bereits frühzeitig auf das Versprechen festgelegt hat, keine Leistungen für die Versicherten zu kürzen. Mit diesen Worten ist Karl Lauterbach seinerzeit bei seiner Vorstellung als Minister aufgetreten.

Nach den jüngsten Ankündigungen des Ministers sollen auch auf den Seiten der Leistungserbringer Einsparungen realisiert werden, um die Lage der Krankenkassen zu stabilisieren. Natürlich sollen auch die Pharmaindustrie sowie die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und die Krankenhäuser ihren Beitrag leisten. Neben einzelnen konkreten Beispielen spricht er davon, dass in diesen Bereichen „Effizienzreserven“ gehoben werden sollen. Die Reaktionen der verschiedenen Interessensvertreter fallen erwartungsgemäß negativ aus. Allerdings fehlt es bislang auch an konkreten Alternativvorschlägen. Leider gehen in der aktuellen Debatte mal wieder die Zusammenhänge der kurzfristigen Sanierungspolitik im Gesundheitsminister unter.

Allen Ankündigungen zum Trotz führen Einsparungen auf Seiten der Krankenhäuser und der Ärzteschaft ohne systematische Reformen naturgemäß zur Kürzung von Leistungen. Das liegt in erster Linie daran, dass die Leistungserbringer für jede einzelne Tätigkeit zur Heilung oder Milderung einer Erkrankung vergütet werden. Wird diese Honorierung an irgendeiner Stelle angepasst, werden die entsprechenden Leistungserbringer überlegen, ob und in welchem Umfang es für sie noch wirtschaftlich tragfähig ist, diese Leistung gegenüber den Patientinnen und Patienten anzubieten. In einer Situation, in der in allen Bereichen die Preise steigen, führt eine Kürzung der Vergütung besonders schnell zur Unwirtschaftlichkeit einzelner Leistungen. In Verbindung mit dem bestehenden Personalmangel in allen Bereichen des Gesundheitswesens ist das Risiko groß, dass eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation auf Seiten der Leistungserbringern zur Aufgabe von Praxen oder zur Schließung von Krankenhäusern führt. Die Versicherten zahlen also sowohl durch höhere Beiträge als auch durch eine Verschlechterung der Versorgung den Preis für eine verfehlte Gesundheitspolitik.

Klar ist auch, dass die öffentlichen Kassen durch die Kosten für die Corona-Hilfen, den Klimawandel, oder die Anpassungen an die neuen Bedrohungen unserer Zeit weitgehend leergeräumt sind. Auch eine Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien würde die Qualität unserer Versorgung keineswegs steigern, weil die Anreize für neue Behandlungsmöglichkeiten oder einen zielgerichteten Einsatz der verfügbaren Ressourcen wegfallen. Die verfügbaren Ressourcen sowohl finanzieller Art als auch personeller Art sind derzeit schlicht und ergreifend stark begrenzt.

Und dennoch gibt es viele Möglichkeiten für einen Gesundheitsminister die Ausgabenentwicklung des Gesundheitssystems zu dämpfen und zugleich die Versorgung zu verbessern. Dafür braucht es jedoch eine offene Debatte über die Strukturen der Gesundheitsversorgung. Bis heute praktizieren die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte weitgehend in Einzelpraxen und beklagen die zunehmende Bürokratie durch Qualitätssicherung, Abrechnungsprüfung und Digitalisierung. Gleichzeitig streiten sich die Krankenhäuser Land auf und Land ab um die wenigen lukrativen Behandlungen und klagen ebenfalls über immer strengere Anforderungen an Ausstattung und Qualität. Bei jedem Reformvorschlag versuchen die Interessenvertreter eine Verschiebung von Kompetenzen oder Budgets zu Gunsten anderer Leistungsbereiche des Gesundheitswesens zu vermeiden. Besonders sichtbar wird diese Missgunst derzeit bei der Debatte um die neu eingeführten Dienstleistungen in den Apotheken oder bei der Frage nach mehr Kompetenzen für die Pflegenden. In diesem Umfeld sind grundlegende Reformen für jeden Gesundheitsminister äußerst schwer.

Dabei können wir alle einen Beitrag für ein modernes und zukunftsfähiges Gesundheitssystem leisten. Dazu gehören für mich drei Aspekte:

  • Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Leistungserbringern, die sich bewusst die knappen Ressourcen teilen und wo immer möglich gemeinsam Einsparungen realisieren, um die knappen Ressourcen für eine gute Versorgung einzusetzen. In der Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten betrachten sie sich als Team und binden auch andere Gesundheitsberufe gezielt auf Augenhöhe mit ein. Gemeinsam werden die PatientInnen durch die verschiedenen Versorgungsstufen gelotst und auf die erhobenen Informationen aus der Vorstufe vertraut. Voraussetzung ist eine strukturierte Zusammenarbeit auf Basis gemeinsam vereinbarter Prozesse und eine lückenlose Dokumentation.
  • Die Patientinnen und Patienten nehmen die knappen Ressourcen des Gesundheitswesens verantwortungsbewusst in Anspruch und gehen in Abstimmung mit ihrer regelhaften AnsprechpartnerIn direkt in die geeignete Versorgungsstufe. Sie vertrauen auf die Entscheidungen und Befunde ihres Behandlungsteams und geben die notwendigen Informationen für eine umfassende Betreuung über die digitalen Schnittstellen für alle an der Behandlung beteiligten frei. Sie dokumentieren die notwendigen Informationen im Behandlungsverlauf und nutzen zusätzliche Angebote für eine Beschleunigung der Genesung und zur dauerhaften Reduzierung der Krankheitslast.
  • Auf dieser Basis schafft der Gesetzgeber die notwendigen rechtlichen Grundlagen für eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen allen Leistungserbringern und eine sinnvolle Bündelung der Strukturen im Sinne einer qualitativ hochwertigen und wirtschaftlichen Versorgung aller BürgerInnen. Dazu gehört auch die schrittweise Reduzierung der Einzelleistungsvergütung für die „Reparatur von Krankheiten“ zu Gunsten einer pauschalisierten Entlohnung einer medizinischen Betreuung mit dem Ziel der Prävention.

In der MACH160 haben wir die notwendigen Strukturen für eine erfolgreiche Etablierung der ersten beiden Aspekte geschaffen. Natürlich leben diese Strukturen von der Mit- und Ausgestaltung durch die beteiligten Personen. Wir freuen uns weiterhin über entsprechende MitstreiterInnen. Gemeinsam mit unseren PatientInnen können wir dann auch glaubhaft gegenüber der Politik und den verschiedenen Interessenvertretungen für nachhaltige Reformen im Gesundheitswesen eintreten.